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OHLSDORF - Zeitschrift für Trauerkultur

Die Transformation der Utopie: Essayistische Betrachtungen einer sich wandelnden Bestattungskultur

Die Einführung der Feuerbestattung im späten 19. Jahrhundert verlief zu Beginn eher zögerlich, erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begann der Siegeszug der Kremation.

Inzwischen liegen die Kremationszahlen deutschlandweit bei über 50%, in vielen Bundesländern sogar bei nahezu 100%. Die Einführung der Feuerbestattung gilt als die bedeutendste Zäsur im Bestattungswesen der letzten Jahrhunderte. Mit der Kremation wird die Bestattung beschleunigt und effizient, denn der Leichnam wird direkt zerstört, statt über Jahre hinweg schleichend zu verwesen. Dies stellt einen äußerst charakteristischen Marker der Technisierung des Bestattungswesens dar. Die Asche wiegt nur ungefähr zwei Kilogramm und kann überall mithingenommen werden. Sie ist, wie es Norbert Fischer so passend formuliert hat, das sepulkrale Signet der mobilen Gesellschaft. Darüber hinaus stecke in der Totenasche ein symbolisches, kreatives, ja sogar utopisches Potential.1
Dieses Potential kann sich auf verschiedenen Wegen entfalten. Da die Aschekapseln recht uniform sind, ziehen es viele Menschen – angeregt durch verkaufsorientierte BestatterInnen – vor, sie in einer Überurne zu verbergen. Überurnen sind finanziell und ökologisch fragwürdig bis sinnfrei, sie bringen aber die Möglichkeit mit sich, einen individuellen Ausdruck zu wählen, denn Form und Material sind fast keine Grenzen gesetzt.

Auch durch die Wahl der Beisetzungsart und die Gestaltung der Trauerfeier kann das kreative Potential erblühen. So kann die Beisetzung der Urne ganz klassisch in einem Erdgrab oder einer Urnenwand erfolgen. Auch Waldbestattungen oder Seebestattungen sind inzwischen möglich. Die Asche kann aber auch geteilt werden, um verschiedene Erinnerungsorte zu generieren. Das ist aber nur dann erlaubt, wenn klar erkennbar bleibt, was die Hauptasche ist. So kann ein kleiner Teil der Asche entnommen und in ein Schmuckstück gefüllt werden, sodass man den oder die Verstorbene(n) immer mit sich herumtragen kann. Und wer die Urne nicht bestatten will, der kann die Asche auch in alle Winde verstreuen. Dies ist in Deutschland aufgrund des noch herrschenden Friedhofszwangs bisher zwar nur eingeschränkt möglich, im Ausland allerdings erlaubt. Findige Bestatter kennen genügend rechtliche Grauzonen, wie die Urne doch mit nach Hause genommen werden kann. Und dann sind der Kreativität keine Grenzen mehr gesetzt.

In unserer globalisierten Welt sind, wie bereits angeklungen, weitere Bestattungsarten auch jenseits der Landesgrenzen möglich. So kann beispielsweise ein Teil der Asche entnommen und in der Schweiz zu einem Erinnerungsdiamanten gepresst werden. Dieser kann zuhause verwahrt oder als Schmuckstück getragen werden. Wer in die Niederlande reisen möchte, kann dort einer Ballonbestattung beiwohnen. Dabei wird die Asche in übergroßen mit Helium gefüllten Ballonen steigen gelassen, die dann in weiter Höhe zerplatzen und die Überreste freigeben. Ebenfalls nur im Ausland möglich, z. B. in England, ist die Feuerwerksbestattung. Hier wird die Asche in Feuerwerkskörper gefüllt, um es zum Abschied mal so richtig krachen zu lassen. Die Trauergemeinde hat dann die Möglichkeit, gemeinsam das Feuerwerk zu betrachten. Wer über die finanziellen Möglichkeiten verfügt, der kann in den USA einen kleinen Teil der Asche in einer Miniurne sogar mit einer Rakete ins Weltall schießen lassen, wo sie in der Erdumlaufbahn freigesetzt wird, um in der Unendlichkeit zu verglühen.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich ist spätestens hier das utopische Potential der Totenasche erreicht. Es liegt in der örtlichen Ungebundenheit, die der Verfügungsgewalt fast keine Grenzen setzt. Der Leichnam kann so zum letzten Gegenstand individueller Gestaltung werden.

Aber auch unabhängig von der Bestimmung über Materialität und Ort der Bestattung kann sich das kreative Potential in prozessbezogenen Innovationen ausdrücken, zum Beispiel durch die Gestaltung der Trauerfeier. Die christlich geprägten Bestattungsrituale verlieren im Zuge der Säkularisierung immer mehr an Bedeutung und immer mehr Menschen wünschen sich eine individuelle Trauerfeier, die der Persönlichkeit der oder des Verstorbenen gerecht wird. Alternative BestatterInnen bieten längst verschiedenste Möglichkeiten, die Trauerfeier selbst zu gestalten. Denn ein gelungener Abschied ist wichtig für einen guten Einstieg in den Trauerprozess. Gerade die Zeit zwischen Tod und Bestattung liefert dafür vielfältige Ansatzmöglichkeiten. Was allerdings ein guter Abschied ist, das ist für jeden etwas anderes. Eine vorgegebene Standardbestattung, die immer noch viele BestatterInnen anbieten, gehört nur selten dazu.

Ein neuer Umgang mit Sterben und Tod führt zwangsläufig auch zu neuen kulturellen Umgangsformen und Ritualen. Dies birgt Chancen und Risiken. Denn Betroffene können sich in der Krisensituation, die ein Verlust mit sich bringt, nämlich nicht mehr auf althergebrachte Rituale stützen, sondern müssen selbst aktiv werden, den für sich und ihre(n) Verstorbene(n) passenden Abschied zu inszenieren. So gleicht die sich wandelnde Bestattungskultur aktuell einem Experimentierfeld, in dem alles hinterfragt wird und alles möglich scheint. Insgesamt lassen sich die bisher beschriebenen Ansätze unter den Schlagwörtern Mobilität und Individualität fassen.

Ein weiterer Blick über den Tellerrand deutscher Bestattungskultur hinaus lässt die beschriebenen Trends schon fast wieder als überholt erscheinen. Jörg Vieweg fasste sie in einem Vortrag auf der Messe "Leben und Tod 2019" in Bremen zusammen.2
Nachzulesen sind sie darüber hinaus unter anderem in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Drunter&Drüber 3
So wurde in Seattle (Washington) seit April 2019 als erstes die Kompostierung als Bestattungsart erlaubt. Dabei werden die Leichen in wabenähnlichen Behältern mithilfe von Mikroben innerhalb weniger Wochen kompostiert – übrig bleibt ungefähr ein Kubikmeter Erde. Diese ökologisch unbedenkliche Erde kann von den Angehörigen mitgenommen oder in der Natur verstreut werden. Ebenfalls neu ist der Infinity Burial Suite. Dabei handelt es sich um einen von der amerikanischen Künstlerin Jae Rhim Lee entwickelten Anzug, dessen Oberfläche mit Pilzsporen versehen ist. Diese beschleunigen die Zersetzung des Leichnams und neutralisieren giftige Stoffe. Lee sieht ihren Anzug als Beitrag zu einer verantwortungsvollen und ökologisch sinnvollen Bestattungskultur. Eine weitere Möglichkeit der umweltfreundlichen Bestattung ist die aus Australien kommende Aquamation bzw. alkalische Hydrolyse. Der Leichnam wird innerhalb weniger Stunden zersetzt, zurück bleibt eine sterile Flüssigkeit, die über den Abfluss entsorgt, oder wie die Asche auch, beigesetzt werden kann.

Anders als die infolge der Kremation auftretenden kreativen bis utopischen Ansätze, die im Zeichen von Mobilität und Individualität stehen und inzwischen quasi als gesetzt gelten, treten diese beiden Marker im Rahmen dieser zukunftsvisionären Ansätze zurück vor einem neuen Schlagwort, der Ökologie, bzw. der Nachhaltigkeit. Ob Nachhaltigkeit und Ökologie als Innovationsmotoren, die den Leichnam nicht in Selbstbestimmung, Individualität und sozialen Beziehungen begreifen, sondern als Stoff bzw. Schadstoff oder Erde für neues Leben, die Nachfrage genauso treffen können wie die Kremation mit ihren Folgen der individuellen Gestaltungmöglichkeiten, darf zumindest in Bezug auf die deutsche Bestattungskultur aktuell noch skeptisch betrachtet werden. Es ist aber vorauszusetzen, dass die Bestattungskultur früher oder später dem Druck der Veränderung nachgeben muss, um den gesellschaftlichen Trends mehr Platz einzuräumen, als es aktuell der Fall ist. Mit den pluralen Möglichkeiten, die die Kremation mit sich brachte und immer noch bringt, wirkt diese wie ein Vorreiter für eine im Angesicht von Ökologie und Nachhaltigkeit inzwischen aber fast schon wieder überholte Bestattungskultur. Was bleibt ist das kreative, utopische Potential, das sich im Wandel der Bestattungskultur weiterentwickelt und stets nach neuen Idealen greift.

Literatur- und Quellenverzeichnis
1 Fischer, Norbert: Inszenierte Gedächtnislandschaften. Perspektiven neuer Bestattungs- und Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert (März 2011), (12.07.19).
2 Vieweg, Jörg: "Tu die Mutti auf den Kompost" – Sinn und Unsinn einer sich (ökologisch) wandelnden Bestattungskultur. Vortrag. Messe Leben und Tod. 11.05.2019.
3 Drunter&Drüber. Das Magazin für Endlichkeitskultur. Part VIII (1/2019).

Auflistung alle Artikel aus dem Themenheft Alternative Bestattungskultur (Oktober 2019).
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